Es hat gedauert. Aber nun bekam ich aus der Tagesschau-Redaktion eine Antwort auf meine Kritik an ihrer Auffassung von Einfacher Sprache. Diese besteht aber nur aus Textbausteinen, die sich mit meinen fachlichen Anmerkungen in keiner Weise auseinandersetzen. Der Ton ist respektlos.
Antwort-Mail der Tagesschau auf Kritik am neuen Nachrichten-Angebot
Sehr geehrter Herr Roth,
vielen Dank für Ihre Zuschrift anlässlich des Starts unserer „tagesschau in Einfacher Sprache“. Wir wissen das Interesse eines, wie Sie schreiben, ausgewiesenen Experten an diesem neuen Nachrichtenangebot besonders zu schätzen. Und es freut uns, dass Sie die „tagesschau“ als wichtiges Medium einstufen. Sie kritisieren, dass das, was Sie bisher als Nachrichten in Einfacher Sprache gelesen hätten, nicht den Normen der Einfachen Sprache nach den neuen DIN ISO 24495-1 und DIN 8581-1 entsprechen würde.
Anmerkung UR: Ich stehe zu meiner Kritik. Insbesondere die DIN ISO 24495-1 blieb unberücksichtigt. Die Definition der Zielgruppe ist schwammig. Über die Lese-Erwartung wurde keine Sekunde nachgedacht.
Sie bezweifeln, dass die Redaktion die Einfache Sprache fachgerecht verwendet. Und Sie schreiben, am meisten habe Sie geärgert, dass wir Einfache Sprache mit Menschen verbinden würden, die eine geringe Bildung hätten – und das sei nicht so. Letzterem stimmen wir absolut zu. Die Kollegen aus der zuständigen Redaktion schreiben dazu folgendes:
„Ist das eine tagesschau für Doofe?“
Viele Menschen verstehen komplexe Texte nicht oder nicht gut. Das heißt aber ganz und gar nicht, dass sie dumm sind.
Anmerkung UR: doof? Das habe ich nie behauptet. Erst recht nicht „dumm“. Ich hatte geschrieben, die Redaktion unterstellt Schlechtlesenden wegen der flachen Inhalte der Nachrichten automatisch Bildungsferne. Die Projektleiterin kennt wohl nicht die Unterschiede zwischen bildungsfern, leseschwach und kognitiv eingeschränkt. Für diese drei Attribute gibt es keine gemeinsame Textform. Das hat die Projektleiterin wohl übersehen.
Die Gründe für ihre besonderen Herausforderungen können sein: Sie lernen gerade erst deutsch. Oder sie hatten nicht die Chance auf eine gute Bildung. Oder sie haben eine Lernschwäche. Oder sie hatten eine Krankheit, etwa einen Schlaganfall. Oder sie sind nach einem anstrengenden Arbeitstag einfach sehr müde. Für all diese Menschen machen wir die „tagesschau in Einfacher Sprache“.
Die Redaktion der „tagesschau“ stellt sich gern kritischen Fragen zum Programm. Wir bitten aber darum, die Zielgruppe für Einfache Sprache nicht als dumm zu verstehen.
Anmerkung UR: In meinem Fachkreis ist man einhellig der Meinung, dass das inhaltliche Niveau der Nachrichten eindeutig auf der Leichten Sprache liegt. Wer Deutsch lernt (das schreibt man doch eindeutig groß), erreicht nach einem halben Jahr intensiven Sprachkurs das „normale“ Niveau der Einfachen Sprache. Zu behaupten, wer nach einem anstrengenden Tag zu müde für die Standard-Nachrichten-Sprache der Tageschau ist und deswegen das Niveau der Leichten Sprache braucht, zeugt von geringen Kenntnissen der Zuschauer*innen.
Wir sind durch den Rundfunkstaatsvertrag verpflichtet, alle gesellschaftlichen Gruppen mit Nachrichten zu versorgen. Diesem Auftrag kommen wir auch mit der „tagesschau in Einfacher Sprache“ nach. Wir nehmen alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen ernst. Die „tagesschau in Einfacher Sprache“ versteht sich als Erweiterung unseres Angebots. Die klassischen „tagesschauen“ stehen selbstverständlich weiter dem daran interessierten Publikum zur Verfügung.
Was die Verwendung der Einfachen Sprache betrifft, können wir Ihnen leider nicht folgen, denn: Die „tagesschau in Einfacher Sprache“ richtet sich nach den Vorgaben der DIN-Norm für Texte in Einfacher Sprache. Diese sieht etwa häufiges Wiederholen von Worten anstelle von Variationen vor. Zudem gibt es auch beispielsweise keinen Konjunktiv oder Genetiv in der Einfachen Sprache.
(Hier ist in der Original-Mail der Link auf die Pressemitteilung des DIN e. V.)
Anmerkung UR: Als Beleg dafür, dass man sich an die DIN 8581-1 Einfache Sprache halte, verweist die Projektleiterin mit einem Link auf die Pressemitteilung des DIN e. V. Das ist ungefähr so, als würde ein Heizungsbauer behaupten, das Heizungsgesetz vollinhaltlich zu verstehen, weil er die Pressemitteilung der Bundesregierung gelesen hat. Ich glaube nicht, dass die Projektleiterin die hier angesprochenen Normen überhaupt gelesen hat.
Darüber hinaus ist die „tagesschau in Einfacher Sprache“ ein journalistisches Produkt, das jeden Tag neu entsteht und sich bisweilen auch sprachlich von Tag zu Tag verändert.
ARD-aktuell wird bei diesem neuen Projekt durch die Universität Hildesheim und deren Forschungsstelle für Leichte Sprache begleitet. Die Wissenschaftler dort haben uns auch im Vorfeld der Sendungen beraten.
Anmerkung UR: Die Forschungsstelle für Leichte Sprache hat der Tagesschau empfohlen, ihr neues Nachrichtenangebot „Einfache Sprache“ zu nennen? Die Forschungsstelle war am Entwurf der DIN 8581-1 nicht beteiligt, obwohl sie dies hätte können. Die Redaktion hatte auch Beratungsangebote von journalistischer Seite, die sich mit Einfacher Sprache auskennt (u. a. von mir). Doch die Projektleiterin vertraute mehr der Wissenschaft und weniger praktischen Erfahrungen.
Wir danken Ihnen dennoch für Ihre Anmerkungen, die uns bei der Weiterentwicklung der „tagesschau in Einfacher Sprache“ hilft. Die Sendung ist ein neues Angebot, das es so in Deutschland noch nicht gibt. Insofern handelt es sich in gewisser Weise um Pionierarbeit und wir freuen uns über aufmerksame Begleitung dabei.
Mit freundlichen Grüßen
Marcus Bornheim
Abschließende Bemerkung zur Antwort der Tagesschau-Redaktion
Ich gehe davon aus, dass die Projektleiterin diese geschrieben hat – in einem ziemlich pampigen Ton. Dass der Tagesschau-Chefredakteur Marcus Bornheim die Mail gezeichnet hat, verwundert mich schon. Wer weiß, vielleicht hat er die Stellungnahme aus einer Redaktion gar nicht gelesen. Denn die Absenderadresse ist nicht seine, sondern die „publikumsservice@tagesschau.de“.
Die Formulierungen zeigen, die Tagesschau-Redaktion hat nicht vor, sich auch nur mit einem Kritikpunkt auseinanderzusetzen.
Dass zu der DIN auch die Anwendung der DIN ISO 24495-1 Einfache Sprache/Plain Language gehört, hat die Redaktion/Projektleiterin wohl immer noch nicht verstanden.
Letztlich steht in der Mail an mich das Gleiche wie in der Ankündigung des neuen Nachrichten-Angebots in Einfacher Sprache. In der Zwischenzeit nichts dazugelernt. Ich finde diese Haltung des wichtigsten TV-Nachrichtenmediums in Deutschland ziemlich arrogant.
Siehe auch 15 Lehren aus der Tagesschau in Einfacher Sprache
Siehe auch Mythen und Fakten Leichte + Einfache Sprache (III)
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