15 Lehren aus der Tagesschau in Einfacher Sprache

Lesedauer 4 Minuten

Das neue Nachrichten-Angebot der Tagesschau in Einfacher Sprache hat ein gewaltiges Echo ausgelöst. Andere Medien berichteten darüber voll des Lobes. Auch Sozialverbände bestätigten, dass Menschen mit kognitiver Einschränkung lange auf ein solches Angebot gewartet hätten. Ich (Uwe Roth) habe daraus zwei wesentliche Lehren gezogen:

  • Die Nachrichten der Tagesschau sind offensichtlich zu kompliziert. Der Ruf nach Verständlichkeit ist laut.
  • Niemand kennt sich mit der Einfachen Sprache aus und weiß, worin diese sich von der Leichten Sprache unterscheidet. Weil Wissen fehlt, kommt das Tagesschau-Angebot weitgehend kritiklos an.

Zum Vorverständnis für die einzelnen 15 Lehren aus der Tagesschau in Einfacher Sprache: Diese ist nach der Definition nicht für Menschen mit Lernschwierigkeiten/geistiger Behinderung beziehungsweise für bildungsferne Lesenden gedacht. Für die erste Personengruppe gibt es die Leichte Sprache. Einfache Sprache ist eine Standardsprache, die konsequent auf Verständlichkeit ausgelegt ist.

Siehe auch DIN 8581-1 Einfache Sprache ist Praxis-bereit

15 Lehren für mehr Wissen über die Einfache Sprache

  1. Die DIN ISO 24495-1 und DIN 8581-1 haben die Einfache Sprache in ein innovatives Regelwerk eingebettet. Wir müssen die Normen jetzt bekannt machen, damit diese Autorität erhalten. Das gilt insbesondere für die DIN ISO, die der DIN 81581-1 erst ihre besondere Wirkungskraft gibt.
  2. Es sind keine regelungswürdigen Menschen, die die deutsche Sprache in ein enges Korsett legen wollen. Die Expert*innen haben weltweit zusammengearbeitet und darüber nachgedacht, was die Verständlichkeit eines Textes verbessert.
    Wir müssen aufklären, dass die Normen unser Deutsch nicht zu einer Technokraten-Sprache machen. Einfache Sprache hat vielmehr das Potenzial zu einer Standard-Sprache zu werden, von der alle profitieren.
  3. Die Bezeichnung „Text in Einfacher Sprache nach DIN ISO 24495-1 und DIN 8581-1“ muss zu einer positiv besetzten Marke werden. So wie dies bei DIN A4 der Fall ist – jede und jeder weiß, was mit der Norm gemeint ist. Weltweit. Wer DIN A4 bestellt, möchte kein Papier mit Maßen irgendwo zwischen DIN A4 und DIN A5 geliefert bekommen.
  4. Die DIN SPEC 33429 Leichte Sprache ist im Entwurf (Stand Mitte Juni 2024). Wir müssen verdeutlichen, dass die drei Normen für Leichte und Einfache Sprache eine Zeitenwende in der barrierefreien Kommunikation einleiten.
  5. Wir müssen möglichen Kund*innen von Texten die Unterschiede beider Sprachformen erklären: Leichte Sprache ist laut DIN-Definition eine Sondersprache. Sie zielt auf Menschen mit Lernschwierigkeiten/geistiger Behinderung/kognitiver Einschränkung ab.
    Die DINs der Einfachen Sprache geben Regeln für verständliche Gebrauchstexte vor. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Einfache Sprache ist für die Allgemeinheit!
  6. Wir müssen besser über die Arten von „Verstehen“ aufklären: Menschen mit Lernschwierigkeiten/geistiger Behinderung und Menschen mit Lern- oder Bildungslücken sind verschiedene Gruppen von Personen.
    Das wird oftmals übersehen. Funktionale Analphabeten sind nicht automatisch dümmer als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie können hochintelligent sein.
  7. Die Tagesschau geht jedoch von einer solchen Bildungsferne bzw. Lernschwierigkeit aus. Sie macht Nachrichten in Einfacher Sprache, die sich inhaltlich auf dem Niveau der Leichten Sprache befinden. Sie wirft alle in einen Topf.
    Die Tagesschau macht die 17 Millionen Menschen aus der LEO-Studie zur Zielgruppe, die Probleme beim Lesen haben (die aber nicht bildungsfern sein müssen). Dass 17 Millionen Menschen über den gleichen eingeschränkten Wortschatz verfügen, das kann nicht sein. Ein solcher Sprach-Allrounder muss erst noch erfunden werden.
    Aus diesem Grund helfen Prüfgruppen (also Text-Prüfer*innen mit Lernschwierigkeiten) nicht. Sie sind für die Leichte Sprache zuständig. Die Tagesschau-Redaktion wurde gefragt, ob solche Prüfgruppen im Einsatz seien. Allein die Frage zeigt, dass die Tagesschau für viel Verwirrung gesorgt hat.
  8. Wir müssen dem Bild in der Öffentlichkeit entgegengetreten, die Regeln der Einfachen Sprache seien speziell für bildungsferne Menschen gemacht worden. Das ist falsch. Die DIN-Regeln bewerten die Intelligenz der Lesenden nicht.
  9. Uns muss es schnellstmöglich gelingen, dass Einfache Sprache ihr Image loswird, für bildungsferne Menschen zu sein. Wenn uns das nicht gelingt, werden potenzielle Auftraggebende weiterhin davon überzeugt sein, dass Einfache Sprache Normalleser diskriminiert. Alle Texte für die Allgemeinheit müssten in Einfacher Sprache geschrieben werden. Ein Beispiel von mir ist die Zusammenfassung des Programms der SPD zur Wahl des Europäischen Parlaments.
  10. Wir müssen als Profis zeigen, dass gute und nach den DINs geschriebenen Texte in Einfacher Sprache kein Abweichen von der Standardsprache erkennen lassen.
  11. Wir müssen sicherstellen, dass Texte mit dem Label Einfache Sprache den Normen entsprechen. Sie machen Qualität der Verständlichkeit messbar. Sie dient dazu, dass
    • Textende so ihre Qualifikation nachweisen können
    • Auftraggeber/innen sich über die Qualität der gelieferten Texte sicher sein können
    • die Lesenden einen Text erhalten, den der Absender nach anerkannten Kriterien der Verständlichkeit erstellt hat.
  12. Das Nachrichten-Angebot der Tagesschau in Einfacher Sprache missachtet die meisten hier genannten Kriterien. Ihm fehlt das Markenzeichen nach den offiziellen Kriterien. Die Tagesschau-Redaktion hat Einfache Sprache frei interpretiert und hofft nun, dass ihre Vorstellung von Einfacher Sprache eine Marke wird. Dies wäre eine Mischung aus Leichter und Einfacher Sprache.
  13. Deswegen ist es wichtig, die beiden Begriffe trennscharf zu halten. Ich jedenfalls wehre mich gegen Aussagen wie „egal, ob Leichte oder Einfache Sprache, Hauptsache verständlich“. Leider vertreten auch einige Anbietenden der Dienstleistung Leichte und Einfache Sprache diese Ansicht. „Hauptsache verständlich“ – nach welchen Kriterien bitte?
  14. Wir müssen verhindern, dass sich jede/r seine persönliche Leichte oder Einfache Sprache macht. Damit ist keiner Zielgruppe gedient:
    • weder den Menschen mit Lernschwierigkeiten
    • noch den Menschen mit fehlender Bildung
    • noch den Normallesern, die Informationen schnell und einfach konsumieren möchten.
  15. Wir benötigen Unterstützer*innen wie die Tagesschau als so bedeutendes Medium, um der Einfachen Sprache zum Durchbruch zu verhelfen. Aber dann bitte richtig. Wir benötigen die Unterstützung der Gesetzgebung. Sie kann in Vorschriften festlegen, dass beispielsweise Behörden Bürger*innen verbindlich in Einfacher Sprache informieren müssen.

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Siehe auch Mythen und Fakten Leichte + Einfache Sprache (III)


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Kommentare

7 Antworten zu „15 Lehren aus der Tagesschau in Einfacher Sprache“

  1. Avatar von Karen
    Karen

    17 Lehren? Ich verstehe das nicht: hier sehe ich 14 Punkte, nummeriert….
    Oder heißt „…aus der Tagesschau…“, dass die Tagesschau 17 Lehren gezogen hat?

    1. Avatar von Uwe Roth, Journalist

      Hallo Karen,

      ich habe meinen Text noch Mal bearbeitet. In der ersten Version waren es 17 Lehren, nun sind es 15. Die Lehren habe ich gezogen. Ob die Tagesschau Lehren zieht, weiß ich nicht. Wünschenswert wäre dies.
      Danke für das Interesse an meinem Blog.

      Herzliche Grüße
      Uwe Roth

      1. Avatar von Karen
        Karen

        Spannende Diskussion! 🙂

    2. Avatar von Karen
      Karen

      Oh, sorry hier… 15 Punkte!

  2. Avatar von Sylvie Bonne

    Hallo Herr Roth

    Ein paar Gedanken zur Abendstunde….

    In den Diskussionen stört mich die forcierte „klare“ Abgrenzung bei den Zielgruppen, die im Leben nicht so klar ist : Hier – die Menschen die nicht bildungsfern sind, dort – die Menschen mit Lernschwierigkeiten. Denn es gibt so viele interindividuelle Unterschiede. Oftmals schadet eine Erklärung mehr nicht, sie muss aber an einer günstigen Stelle kommen. Tja, im Mündlichen ist das schwieriger zu „übergehen“ als im Schriftlichen.

    Ich habe mich mit Kriterien der DIN ISO 24495-1 (frz und deutsche Version) und DIN 8581-1 auseinandergesetzt. Sie bündeln bereits bestehende Kriterien, das ist gut.
    Ich lese viele Überschneidungen mit den Kriterien für die Leichte Sprache/ Leichte Sprache + ( abgesehen vom unterschiedlichen Layout). Ok: in der Einfachen Sprache geht der Grad der Vereinfachung nicht so weit. Es gibt weniger Erklärungen, die Sätze dürfen länger sein.

    Ob die freiwillige Norm sich durchsetzen wird, da sie nicht kostenfrei genutzt werden kann? Erstmal muss ich bezahlen um die Norm zu lesen. Wenn ich sie für meine Kurse benutze, muss ich nochmal zahlen, wegen der Kopierrechte usw. Hm… das könnte die Sache erschweren.

    Lieben Gruss,
    Sylvie Bonne

  3. Avatar von Karen
    Karen

    Heute habe ich dieses intressante Interview gehört.
    https://uebermedien.de/96519/wie-gut-gemacht-ist-die-neue-tagesschau-in-einfacher-sprache/
    Stimmen Sie hier überein?

    1. Avatar von Uwe Roth, Journalist

      Im Großen und Ganzen ja. Ich kenne die Kollegin Halbritter von LinkedIn. Wir sind dort im regelmäßigen Austausch. Leider hat sie die DIN-Werke nicht erwähnt. Das wäre schon sehr wichtig gewesen. Sie hätte deutlicher hervorheben müssen, dass die Bezeichnung Tagesschau in Einfacher Sprache schlicht und ergreifend falsch ist.

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