Lehrende müssen Bücher für Studierende in Einfacher Sprache schreiben. Wenn ich den Beobachtungen des Lehrpersonals an Hochschulen und Universitäten folge, wäre ein Umstieg von der traditionellen Sprache der Wissenschaft zur Einfachen Sprache (nach der DIN ISO 24495-1 sowie DIN 8581-1) konsequent. Gefragt ist Literatur in Einfacher Sprache für erfolgreiches Studieren. Schreiben Sie mir, wenn Sie anderer Meinung sind: Kontakt
Ich hatte in LinkedIn eine Nachricht gepostet, nach der die Generation Z ein Problem habe, Bücher vollständig zu lesen. Über 50 Kommentare gab es dazu. Die Anmerkung einer Doktorandin brachte mich besonders ins Grübeln:
„Warum sollte der Mensch eigentlich ein ganzes Buch lesen können müssen?“
Sie arbeitet in der Forschung zur Kommunikation in der Wissenschaft. Die Wissenschaftlerin kennt sich in der Thematik aus.
Sie begründet ihre Frage so:
„In der wissenschaftlichen Arbeitspraxis liest kaum jemand ein Buch von Anfang bis Ende. Der Trend und die Forderung an junge Wissenschaftler*innen geht dahin, dass Bücher so geschrieben werden sollen, dass jedes Kapitel für sich stehen kann; für sich gelesen werden kann. Wo brauchen wir also den Skill des Lesens eines ganzen Buches z.B. in der Wissenschaft?“
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Je unverständlicher – umso wissenschaftlicher?
Sie hat nicht unrecht. Ich habe während meines Studiums für ein Referat manche Bücher auch nur Kapitel-weise gelesen. Das war vor knapp 40 Jahren. Am Versuch, Bücher von Niklas Luhmann vollständig zu lesen, wäre ich andernfalls zugrunde gegangen.
Das ist bereits Fachsprache. Luhmann. Unverständlich. Denn über diesen Satz werden nur diejenigen verständnisvoll lächeln, denen der Name des verstorbenen Soziologen etwas sagt und die sich mit seinen Schriften gequält haben. Diese sind nach dem Grundsatz geschrieben: Je unverständlicher – umso wissenschaftlicher.
Im Vorwort seines bekanntesten Werks, „Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie“ (1984), steht:
„Die Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen.“
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Damals fasziniert über das Wörter-Dickicht – heute empört
Ich war damals von dieser fast schon lyrischen Metapher tief beeindruckt und bereit, mit intellektuellem Eifer die Wolkenlücken zu entdecken. Das waren dann so auf jeder zweiten oder dritten Seite ein bis zwei (ellenlange) Sätze.
Heute finde ich diese Einstellung des Bielefelder Professoren überheblich und empathielos. Nicht die ratlos Gebliebenen haben versagt, sondern der wissenschaftliche Gabenbringer. Er war nicht imstande, seine Gedanken nachvollziehbar zu machen. Einfache Sprache in der Wissenschaft ist ein Auftrag an die Lehrenden.
Vielleicht macht man das so, um zwischen Eingeweihten kontroverse Diskussionen auszulösen. Wer abstrakt formuliert, kann davon ausgehen, dass er/sie das Geschriebene unterschiedlich verstehen. Ganz im Sinn der Dialektik (Fachwort!).
Luhmann wollte doch seine Theorien nicht nur soziologischen Vollprofis näherbringen, sondern ebenso dem akademischen Nachwuchs. Oder musste man bei ihm durch eifriges Studieren erst auf seine Augenhöhe kommen? Aber wie, wenn Luhmann absichtlich Hürden einbaut?
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Schwere Sprache in der Wissenschaft nicht mehr zeitgemäß
In meinen Workshops plädiere ich seit geraumer Zeit, dass die Wissenschaft für Publikationen die Einfache Sprache ernst nehmen muss. Die DIN ISO 24495-1 und die DIN 8581-1 bieten eine hervorragende Anleitung. Niemand muss mit Einfacher Sprache auf wissenschaftliche Inhalte verzichten. Ich zeige, wie das geht. Einfache Sprache in der Wissenschaft ist kein Widerspruch. Als Beweis präsentiere ich aktuelle Wissensbücher für ein Studium, die nicht lesbar sind. Eine Minischrift und kaum Absätze auf der Seite (also auch keine Zwischenüberschriften) erschweren das Lesen zudem. Ich bearbeite die Texte und zeige, dass Einfache Sprache dem Inhalt nichts wegnimmt.
Der Historiker eines aktuellen Buchs über Platon beginnt seinen Text mit einem Satz, der aus über 50 Wörtern besteht. Ist der Akademiker unfähig zu erkennen, dass der Anfang seines Buches ein Rausschmeißer ist? In der ersten Zeile erwähnt er erklärungsfrei die Ideen-Lehre Platons. Folglich muss man Vorwissen zu einem komplexen Thema haben, um den Rest des (ersten) Satzes zu verstehen. Der Verlag ist für seine Wissenschaftsliteratur bekannt. Was hat sich das Lektorat gedacht?
Wissenschaft erzwingt keine komplexen Texte
In einem Satz möglichst viele Informationseinheiten unterzubringen, ist nicht mehr zeitgemäß. Das ist der hauptsächliche Grund, warum man einen Satz mehrmals lesen muss, um diesen vollständig zu verstehen. Das hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Wissenschaftstexte sind oftmals schlecht geschrieben, weil Studierende verständliches Schreiben nicht lernen. Fachbegriffe sind notwendig. Aber man muss sich im Klaren sein, wozu diese dienen: Fachbegriffe sind eine Zusammenfassung vieler Gedanken und Ideen in einem einzigen Wort. Um zu verstehen, was Platons Ideen-Lehre ist, sind dicke Bücher geschrieben worden. Wer sind meine Leser*innen? Lesen sie mein Buch mit ausreichendem Vorwissen? Oder verlange ich, dass sie meine Lektüre unterbrechen und irgendwo (im Zweifel im Internet) nachschlagen, um den unbekannten Begriff kennenzulernen?
Als ich in den 1980er Jahren studierte, gab es Bücher und nur Bücher – und keine Ablenkung (außer vielleicht das Radio). Die Lese-Situation ist heute eine andere. Ich merke das auch: Obwohl ich ein langjährig Geübter im Lesen bin, ist meine Konzentration zum Lesen längerer und komplexer Texte wegen der vielen Ablenkungen (soziale Medien) zurückgegangen. Ich mache jungen Leuten daher keine Vorwürfe, wenn sie nach überschaubarer und verständlicher Literatur verlangen.
„Ganzes Buch zu lesen, ist untrainierte Aufgabe“
Rüdiger Maas forscht in Augsburg am Institut für Generationenforschung zur Gen Z und der Nachfolge-Generation Gen Alpha. Er sagt: „Ein ganzes Buch zu lesen, ist eine untrainierte Aufgabe. Wenn ich untrainiert bin, bin ich langsamer. Die Studierenden könnten das schon, aber es ist sehr unangenehm, weil sie es so selten trainieren.“
Auch dieses Argument bringe ich in meine Workshops ein: Wir dürfen nicht erwarten, dass die Lese-Kompetenz besser wird. Wenn wir wollen, dass in Zukunft ausreichend Menschen lernen, müssen wir ihnen sprachlich entgegenkommen – eben mit Einfacher Sprache nach den Regeln der Din ISO 24495-1 und DIN 8581-1.
Einfache Sprache für Studierende aus dem Ausland
Ein weiteres Argument für Einfache Sprache in der Wissenschaftsliteratur ist: Immer mehr Menschen an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben einen Migrationshintergrund. Deutsch ist nicht ihre Muttersprache. Die wissenschaftlichen Inhalte sind kein Probleme, jedoch die Sprache, wie diese dargestellt werden.
Nach einem Vortrag kam eine junge Akademikerin auf mich zu. Sie sagte, sie hätte sich mit dem Lernen der deutschen Sprache viel leichter getan, wäre das Unterrichtsmaterial in Einfacher Sprache gewesen. Mit den Regeln der Einfachen Sprache, die sie nun kennengelernt habe, werde sie künftige bessere Texte schreiben.
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