Warum Lesekompetenz ohne Einfache Sprache?

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Die am 7. Mai 2019 vorgestellte LEO-Studie der Universität Hamburg über die Lesekompetenz der Deutschen ist in den Medien als eine beinahe uneingeschränkte Erfolgsmeldung präsentiert worden. Zu Recht? Die von Bundesbildungsministerin Anja Maria-Antonia Karliczek (CDU) präsentierte Statistik liefert nach ihrer Interpretation den Beweis, dass Deutschland die Trendwende zu wieder mehr Lesekompetenz in der Bevölkerung geschafft hat (Pressemitteilung). Trotz aller Bemühungen: Immerhin ein Drittel der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren kann nicht problemlos lesen und schreiben.

Das ist nicht gerade wenig. Und die Statistik gibt keinen Blick auf die Zukunft. Die Generation zwischen sechs und der Volljährigkeit bleibt ausgespart. Über sie gibt es alarmierende Meldungen über eine sinkende Lesekompetenz („Viele Kinder können nicht richtig lesen“).

180 Millionen Euro für die erwachsenen Leseförderung

Die Bundesregierung hat in den vergangenen drei Jahren 180 Millionen Euro in ihre Alphabetisierungs-Kampagne AlphaDekade gesteckt. Die Studie selbst hat 2,5 Millionen Euro gekostet. Dafür war eine Erfolgsmeldung wichtig. Die Einfache Sprache zu fördern, gehört leider nicht dazu. Vielmehr sollen die Betroffenen über Lernangebote beispielsweise das „Ausfüllen von Formularen beim Arzt oder bei der Krankenversicherung“ trainieren. „Praktische Situationen aus dem Alltag“ sollten sie meistern lernen.

In den Kommentaren zu der LEO-Studie ist keine Rede davon, dass die meisten „offiziellen“ Formulare unnötig kompliziert gestaltet sind. An keiner Stelle wird die Überlegung angestellt, dass schwere Behördensprache Schlechtlesern das Verstehen zusätzlich erschwert. Im Umkehrschluss erleichtert Einfache (Behörden-)Sprache das Verstehen. Niemand stellt in der Bildungspolitik anscheinend die aus meiner Sicht berechtigte Frage, ob verständlich formulierte Informationen ebenfalls dazu beitragen könnten, die Lesekompetenz zu verbessern?

In den USA gilt der Plain-Writing-Act (noch unter Obama in Kraft gesetzt), der Bundesbehörden vorschreibt, mit allen Bürgern in Einfacher Sprache zu kommunizieren. Grundsatz: Bürger verstehen Behördenbriefe beim ersten Durchlesen.

Lesekompetenz muss neu definiert werden

Besteht Lesekompetenz allein darin, möglichst flüssig durch ellenlange Schachtelsätze zu gleiten und in Echtzeit komplizierte Fachbegriffe in die eigene Alltagssprache zu bringen?

Ganz sicher nicht! Meines Erachtens muss Lesekompetenz neu definiert werden. Und zwar nicht von oben nach unten. Ist es zielführend, dass Akademiker/Wissenschaftler Lesekompetenz in Stufen zu sich an die Spitze einteilen? Bestnoten für diejenigen, die dem Sprachniveau C2 ganz nah kommen? Und umgekehrt, Schlechtnoten für Schlechtleser? Ich habe viele Wissenschaftler/Experten kläglich daran scheitern gehört, ihren Forschungsgegenstand verständlich zu erklären. Was ist das für eine Kompetenz? Müsste es dafür nicht auch eine Alphabetisierung für Menschen mit Expertenwissen geben?

Schwere Sätze = schlecht geschriebene Sätze

In meinen Workshops mit Teilnehmern aus der Verwaltung bearbeiten wir Fachtexte, die für Bürger geschrieben sind. Ich analysiere sie vorab mit dem Programm TextLab. Jedes Mal stellt sich bei schlecht bewerteten Texten heraus, dass Verständlichkeit zu

1.) 30 Prozent von undurchsichtigen Gliederung des Texts beeinträchtigt wird, zu

2.) 40 Prozent unleserlichen Sätzen (zu lang, zu viele Nebensätze, zu viele Gedanken auf einmal etc.) und zu

3.) 30 Prozent von schweren Fachbegriffen.

Die Erkenntnis der Workshop-Teilnehmer: An den ersten beiden Punkten kann man gut arbeiten. Einfache Sprache geht nicht auf Kosten von Inhalt. Fachbegriffe in Alltagssprache zu umschreiben, ist dagegen sehr viel schwieriger, wie ich beobachte. Das benötigt ein Training. Die Bereitschaft, an der eigenen Kommunikation zu arbeiten, ist vorhanden. Das Problem wird nicht allein in der schlechten Lesekompetenz der Bürger gesehen.

Zur Alphabetisierung gehören Empfänger und Sender von Informationen

Zu welchem Ergebnis käme die LEO-Studie, wenn Wissenschaftler die Probanden mit Formularen, Vertragstexten oder Behördentexten testen würden, die in Einfacher Sprache geschrieben sind? Die Werte bezüglich Lesekompetenz wären ganz sicher besser.

Foto: UHH/Ohme Prof. Dr. Anke Grotlüschen leitete die "Leo-Studie 2018", die an der Universität Hamburg durchgeführt wurde.
Foto: UHH/Ohme Prof. Dr. Anke Grotlüschen leitete die „Leo-Studie 2018“, die an der Universität Hamburg durchgeführt wurde.

Also: Zu einer Alphabetisierung-Kampagne gehören nicht nur die Empfänger einer Information, sondern auch die Sender. Das ist in den Überlegungen zur Studie wohl nicht berücksichtigt worden. Die Autoren sehen im Wesentlichen die Schlechtleser in der Holschuld. Nach Erkenntnissen von Prof. Dr. Anke Grotlüschen, die die LEO-Studie leitete, nehmen lediglich 0,7 Prozent der Geringleser an einem Alphabetisierungs- oder Grundbildungskurs teil. Insofern ist es fraglich, ob die 180 Millionen Euro für die Alphabetisierungs-Kampagne AlphaDekade gut investiertes Geld sind. Die finanzielle Förderung der Einfachen Sprache bliebe sicherlich nicht ohne Effekte.

Grundsätzliches zur Sprache der LEO-Studie

Grundsätzlich stört mich an der Studie, dass es sie nur in Wissenschaftssprache gibt. In der Version für die Medien (Pressemappen) beginnt der Hauptteil so:

In der Tradition der „New Literacy Studies“ (Street 2003) lässt sich Literalität als eine soziale Praxis verstehen, die von Kontext zu Kontext, ja von Person zu Person unterschiedlich ist. Diese vielfältigen ‚Literalitäten‘ stehen gesellschaftlich jedoch nicht gleichwertig nebeneinander…“

Ich habe Kapitel 3 „Literalität(en) und geringe Literalität“ mit dem an der Universität Hohenheim von Professor Frank Brettschneider (Institut für Kommunikationswissenschaft) mitentwickelten Programm TextLab analysiert. Heraus kam ein Indexwert von 3,37. Zielvorgabe für einen Fachtext sind 12. Allgemeine Verständlichkeit startet beim Indexwert 16. Analysiert wurde ein Text bestehend aus 530 Wörtern. Das Programm fand 16 Sätze mit mehr als zwei Informationseinheiten, zehn Sätze mit mehr als 20 Wörtern und neun Sätze mit mehr als zwei Satzteilen. Die übrigen Parameter ergaben ebenfalls schlechte Werte.

Ich finde, wer auf diesem Gebiet forscht, sollte selbst an seiner Schreibkompetenz arbeiten.

Zu den Zahlen:

Laut Studie ist die Zahl der Bürger, die nicht richtig schreiben und lesen können und als Analphabeten gelten, seit 2011 von 7,5 auf 6,2 Millionen gesunken. Die Zahl der Menschen mit mangelhaften Rechtschreibproblemen verringerte sich demnach von 13,4 Millionen auf nun 10,6 Millionen.

„Die Ergebnisse der neuen LEO-Studie zeigen, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben, um das Grundbildungsniveau von Erwachsenen in Deutschland zu erhöhen. Damit wird mehr Menschen eine bessere Teilhabe am öffentlichen und beruflichen Leben ermöglicht“, wird die Bundesministerin in der Pressemitteilung ihres Hauses zitiert. In der Bilanz spricht die Bildungspolitikerin von einem „beachtlichen Fortschritt“ und einer „positiven Entwicklung“.

Pressemitteilung der Universität Hamburg zur LEO-Studie 2018

Interview mit Prof. Dr. Anke Grotlüschen

Pressemappe zur LEO-Studie 2018

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