Corona-Verordnung fällt bei Text-Analyse gnadenlos durch

Lesedauer 4 Minuten

Minimum einmal in der Woche veröffentlicht die Landesregierung von Baden-Württemberg eine Anpassung ihrer Rechtsverordnung gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Klar, bei der Formulierung der Textfassungen muss es schnell gehen. Es sind Verwaltungsleute und vor allem Juristen am Werk. Und das liest sich auch so. Bestehende Texte werden notdürftig angepasst. Schnell, schnell, schnell… Hauptsache juristisch korrekt.

Weit, weit, weit entfernt von Einfacher Sprache. Und ich meine nicht die Leichte Sprache für Menschen mit Lern-Schwierigkeiten/geistiger Behinderung. Ich orientiere mich an Plain Language für alle Menschen. So wird im englisch-sprachigen Raum Einfache Sprache (Plain Language) verstanden. Eine einfache Form der (behördlichen) Verständigung für alle Bürger.

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Erläuterungstext für die Bürger im unteren Bereich der Verständlichkeit

Aber muss Behörden-Sprache tatsächlich so kompliziert sein? Dieser Corona-Text wurde auf der Seite des Sozialministerium am 10. Mai 2020 veröffentlicht. Es ist ein Erläuterungstext – kein reiner Rechtstext. Er ist nicht nur an Juristen und Fachleute aus den Verwaltungen, sondern auch an die Bürgerinnen und Bürger gerichtet:

Originaltext des Sozialministeriums Baden-Württemberg

Schon auf den ersten Blick sind eine Menge Bandwurmsätze zu lesen. Um eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung der Verständlichkeit zu bekommen, prüfe ich mit TextLab. Das ist ein Online-Analyseprogramm. Es wurde an der Universität Hohenheim entwickelt.

Maßstab für Verständlichkeit ist der Hohenheimer Index (0 bis 20)

Also ein heimisches Stuttgarter Programmiergewächs, das unter der Leitung des Professors Frank Brettschneider entstanden ist.

Bewertet wird nach dem Hohenheimer Index. Der höchste Wert ist 20. Texte mit diesem Höchstwert sind sehr leicht verständlich. Diese Zahl ist kaum erreichbar. Null hingegen bedeutet, der Text ist ganz und gar unleserlich. Internettexte sollen den Wert 16 erreichen. Der Text der Landesregierung liegt bei aufgerundet 4 Indexpunkte. Meine Redaktions-Arbeit beginnt in der Regel bei 6 bis 8 Indexpunkten des Originals. Von solchen Ausgangswerten erreiche ich mindestens 15 Punkte und meistens bessere Resultate.

Höchstes Sprachniveau C2 hat Indexwert 12 – Welches Niveau ist dann 4?

Zum Vergleich: Die Kommunikations-Wissenschaft verlangt für einen Fachtext auf der Hohenheimer Skala den Indexwert 12. Folglich geht die Regierungs-Verordnung nicht mal als Fachtext durch. 12 entspricht höchstem Sprachniveau C2. Wenn der Indexwert 12 dem höchsten Sprachniveau C2 entspricht, welches Sprachniveau ist dann der Indexwert 4?

Es habe schnell gehen müssen. Für eine intensive Redaktion sei keine Zeit gewesen. Außerdem habe die Rechtssicherheit im Vordergrund gestanden, nicht die Verständlichkeit. So heißt es von Verwaltungsseite.

Das kann alles so sein. Aber ein wenig mehr Sorgfalt der Verordnungs-Formulierer schwäre schon nett. Ein von TextLab ausgewerteter Satz hat 58 Wörter. Die Empfehlung des Analyseprogramms lautet nicht mehr als 20 Wörter. Beinahe der gesamte Verordnungstext besteht aus solchen Bandwurmsätzen. Aus gutem Grund haben die Wissenschaftler den Zielwert auf 0 Prozent gelegt.

Überlange Sätze sind Aussteiger.

Auch Gutleser haben bei 60-Wort-Sätzen keine Chance

Auch Gutleser tun sich sehr schwer, den kompletten Inhalt eines solchen Mammutsatzes zu erfassen.

Der Text des Ministeriums hat einen Anteil überlanger Sätze von knapp 30 Prozent. Das ist nach meiner Erfahrung ein besonders schlechtes Ergebnis.

Ein wichtiger Grundsatz für die allgemeine Verständlichkeit eines Textes lautet: 

ein Satz – ein Gedanke.

Dieser Anspruch stimmt im Übrigen mit dem der Einfacher Sprache/Plain Language überein. Nicht zu viel Inhalt in einen Satz zu stopfen, so lautet die Vorgabe.

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Bandwurmsätze haben nichts mit Rechtssicherheit zu tun!

TextLab fand in dem Verordnungstext im Schnitt zwischen 6 und 18 Einheiten an Informationen pro Satz. Ich könnte noch viele weitere TextLab-Kriterien für die Bewertung nennen, an denen der Verordnungstext gescheitert ist. Zum Beispiel der hohe Anteil an abstrakten Sätzen im Nominalstil.

Was haben nun Bandwurmsätze mit Rechtssicherheit zu tun? Gar nichts. Einen überlangen Satz in kurze Sätze aufzudröseln, verbessert die Leichtigkeit des Lesens. Der Vorgang kratzt jedoch in keiner Weise an der Rechtssicherheit.

Und wetten: Sogar Juristinnen und Juristen lesen einen Text lieber, wenn nur eine Informationseinheit im Satz steckt. TextLab bewertet nicht die Verständlichkeit von Fachbegriffen, sondern die Lesbarkeit.

Die Gleichung schwere Lesbarkeit gleich Nachweis von Fachlichkeit, das stimmt nicht.

Verständliches Schreiben benötigt eine spezielle Kompetenz

Einen Text verständlich zu schreiben, das erfordert Zeit. Viel Zeit. Aber man kann die Redaktion Profis der Einfachen Sprache überlassen. Es ist üblich geworden, dass bei wichtigen Auftritten von Politikvertretern zur Corona-Krise ein Gebärdendolmetscher daneben steht und seine Arbeit macht. Bei schriftlich veröffentlichten Texten sollten ebenfalls Spezialisten ans Werk dürfen.

Ich habe einen 20-seitigen Leitfaden zum Arbeitslosengeld II in Einfache Sprache gebracht. Ich habe trotz einiger Routine an manchen Textstellen im Original schwer gekämpft. Aber es hat sich gelohnt.

Und es würde sich auch bei den Corona-Texten lohnen. Schließlich lesen die offiziellen Texte der Regierung nicht allein Fachleute in den Kommunen. Auch Gastwirte, Hoteliers, Künstler, oder Ladenbesitzer gieren nach den neuesten Informationen von offizieller Seite. Ihre Existenz hängt möglicherweise von den weiteren Entscheidungen ab. Die meisten haben kein juristisches Vorwissen. Und eine hohe Lese-Kompetenz ist nicht immer gegeben.

Schwere Behörden-Texte werden frei interpretiert – ausgelegt nach Bedarf

Wer den Text nicht vollständig versteht, fängt an, diesen frei zu interpretieren. Oder er sucht sich jemanden, der ihm den Text verständlich macht. Das passiert selten objektiv. Das kann für die öffentliche Meinung gefährlich werden. Denn mancher interpretiert einen Text so, wie es ihm passt. So, wie die Interpretation zu seinem Weltbild passt. Die Ausmaße lassen sich bei den Protest-Aktionen gegen die Beschränkungen zur Pandemie beobachten. Auch die Medien sind nicht davor geschützt, etwas falsch zu verstehen und Halbwahres in die Öffentlichkeit zu bringen.

Die Politik – und in dem Fall auch die Medizin – hat immer noch nicht verstanden, wie wichtig leicht verstehbare Informationen sind. Mit Einfacher Sprache lassen sich alle Inhalte transportieren. Rechtssicherheit ist nicht gefährdet. Es ist eine Frage des Willens. In den USA gilt die Vorgabe ab Bundesbehörden, dass Texte beim ersten Lesen von 85 Prozent der Bürger verstanden werden. Das ist ein hoher Anspruch. Die Vorschrift stammt noch aus der Obama-Zeit.

Wer an die Vernunft der Bürger appelliert, sollte das in verständlicher Sprache können.

Schreiben Sie mir: Uwe.Roth@leichtgesagt.eu

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Dieser Text hat im Übrigen einen Indexwert von 17.

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