Gegenleser sind wichtig. Sie können aber nicht mangelnde Qualität beim Schreiben in Leichter Sprache ausgleichen. Foto: Uwe Roth

Warum DIN SPEC Leichte Sprache gescheitert ist

Lesedauer 5 Minuten

Die DIN SPEC 33429 Leichte Sprache hätte ein klares Regelwerk werden sollen. Daraus ist nichts geworden. Anwenderinnen und Anwender der Norm-Empfehlung werden sich mit Texten in Leichter Sprache weiterhin schwertun. Ich habe 5 Jahre mitgearbeitet und bei keiner Sitzung gefehlt. Nun erkläre ich (Uwe Roth), warum die DIN SPEC Leichte Sprache gescheitert ist.

Ich habe mich gegen eine Veröffentlichung der aktuellen Fassung ausgesprochen. Ich war/bin auch an der DIN 8581-1 Einfache Sprache beteiligt, die meine volle Unterstützung hat.

Meine Erkenntnis: Die DIN SPEC 33429 soll Verwaltungen die Ausschreibung von Texten in Leichter Sprache erleichtern. Das ist nur der Fall, wenn die ausschreibende Person die Zielgruppe „Menschen mit Lernschwierigkeiten“/kognitiver Behinderung persönlich kennt. Das ist zum Beispiel wichtig bei der Wahl des Themas und der Länge eines Textes. Leider sind solche Vorkenntnisse selten der Fall. Der Personenkreis hat eine andere Lese-Erwartung und begreift nur das, was einen Bezug zu seiner Alltagserfahrung hat. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat die Broschüre „Das Soziale Entschädigungs-Recht. Informationen zum Sozial-Gesetzbuch 14“ in Leichter Sprache veröffentlicht. Die Broschüre hat 50 Seiten. Der Text beginnt mit einer Gender-Erklärung.
Welcher Mensch mit einer kognitiven Behinderung soll diesen Text lesen? Der Auftraggeber im Ministerium hat von der Zielgruppe jedenfalls keine Ahnung.

DIN SPEC Leichte Sprache kein Teil des Normenwerks

Im Frühjahr 2020 startete die redaktionelle Arbeit für ein Norm-Werk Leichte Sprache. Von vornherein war klar, dass die Regeln nur eine Empfehlung und keine Verpflichtung sein werden. Eine DIN SPEC (specification) ist nicht Teil des Deutschen Normenwerks. Der Geschäftsplan vom Deutschen Institut für Normung e. V. sah die übliche 12-monatige Entstehungszeit für eine SPEC vor. Daraus sind lange 5 Jahre geworden.

Alle am Entwurf Beteiligten hatten sich schon zuvor mit der Leichten Sprache in irgendeiner Form beschäftigt. Wie sich in den ersten Sitzungen (hybrid oder nur online) herausstellte, gingen die Meinungen darüber weit auseinander. Im Geschäftsplan steht: „Dabei ist es wichtig, ein gemeinsames Verständnis für das Regelwerk zu entwickeln und nur die Regeln aufzunehmen, die Konsens sind.“ Das hat aus meiner Sicht nicht geklappt. Die Ansichten sind unterschiedlicher denn je. Im Ergebnis gilt der Spruch: Viele Köche/innen verderben den Brei.

Siehe auch Leichte Sprache – kein Teil des BFSG

Textprofis fehlten in der DIN-Schlussredaktion

Am Ende war nicht klar, ob es überhaupt ein Ergebnis geben wird. Irgendwie kam eine Endfassung zustande, an der ich nicht mehr beteiligt war. Es ging nur noch darum, endlich das Projekt abschließen zu können.

Textprofis haben in der Schlussredaktion offensichtlich gefehlt. Dafür war die Vertretung der Prüfgruppen übermächtig, was im Dokument nicht zu übersehen ist. Nun sind die „Empfehlungen für Deutsche Leichte Sprache“ seit März 2025 auf 60 Seiten kostenfrei zugänglich, wie das für eine SPEC üblich ist (Bestellung).

Einige meiner Kritikpunkte, die ich in den DIN-Gremien vergeblich zur Sprache brachte:

DIN SPEC Leichte Sprache definiert Zielgruppe als „Menschen mit Lernschwierigkeiten“: Zu diesem Begriff gibt es keine einheitliche Meinung. Der Begriff unterstellt, dass sie eine homogene Gruppe darstellen und auf einem ähnlichen kognitiven Stand sind. Das kann niemand behaupten. Es gibt Menschen mit einer kognitiven Behinderung, die überhaupt nicht lesen können. Und es gibt welche mit einem Uni-Abschluss. Menschen mit Autismus Spektrum Störung und die mit Trisomie 21 lehnen die Bezeichnung als diskriminierend ab. Sie wollen lieber die Einfache Sprache.

Welche „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ meint DIN SPEC Leichte Sprache?

Die Mehrheit der Menschen mit einer kognitiven Behinderung sind auf einem Stand von Vier- bis Acht-Jährige. Außerdem ist deren Sprache stark von Dialekt geprägt. Offizielle Untersuchungen dazu gibt es nicht. Es ist ein Erfahrungswert meiner Frau Susanne Hasel, die seit Jahren als Beraterin in der Behindertenhilfe bundesweit unterwegs ist. Ich behaupte, niemand in Deutschland kennt so viele Menschen aus diesem Personenkreis. In gemeinsamen Projekten erlebe ich, wie viele Menschen mit der Einfachen Sprache gut zurechtkommen.

Siehe auch Tagesschau reagiert gereizt auf Kritik an Einfacher Sprache

Siehe auch 15 Lehren aus der Tagesschau in Einfacher Sprache

Einfache Sprache ist flexibler als Leichte Sprache

Die Benennung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ als einzige Zielgruppe der DIN SPEC macht die Leichte Sprache zu einer Sondersprache. Dagegen gehört die Einfache Sprache zur Standardsprache. Die DIN SPEC gibt die Zielgruppe vor. Die DIN Einfache Sprache verlangt von den Autorinnen und Autoren, eine Zielgruppe zu definieren, bevor sie sich ans Schreiben machen. Das macht die Einfache Sprache sehr viel flexibler. Mit Einfacher Sprache ist sehr viel mehr Inklusion möglich als mit Leichter Sprache.

Was sind Themen für die Leichte Sprache?: Darüber sagt die DIN SPEC Leichte Sprache nichts aus, was ein großer Mangel ist. Ein Satz in Leichter Sprache sollte laut der Regel nicht mehr als 10 (kurze) Wörter und nur eine Aussage haben. Das lässt pro Satz wenig Inhalt zu. Menschen mit einer kognitiven Behinderung können nur kurze Texte am Stück lesen. In der DIN SPEC heißt es dazu knapp: „Lange Texte stellen jedoch eine Barriere für die Nutzerinnen und Nutzer Leichter Sprache dar.“

Zulässige Textlänge bei Leichter Sprache ist nicht definiert

Doch was bedeutet „lang“? 10 Wörter pro Satz lässt sich abzählen. „Länge“ hingegen ist ein unbestimmter Begriff, einer DIN eigentlich unwürdig. Der Hinweis ist wichtig, denn die meisten Dokumente im Internet oder Hefte in Print-Form sind mit 20 und mehr Seiten viel zu komplex und taugen für die Zielgruppe nichts. Die neue DIN SPEC Leichte Sprache wird das nicht ändern.

Ein langer Text, in dem jeder einzelne Satz der Leichten Sprache entspricht, ist in seiner Gesamtheit keine Leichte Sprache mehr.

Zentral für die Themen-Wahl ist der Wortschatz, der Textenden zur Verfügung steht. Die DIN SPEC Leichte Sprache sagt dazu:

„Leichte Sprache sollte den zentralen Wortschatz der deutschen Sprache benutzen.“

Das ist sehr schwammig formuliert. Zumal wir in einer Zeit leben, in der sich der „zentrale Wortschatz“ ständig und radikal verändert. Google und KI führen dazu, dass der „zentrale Wortschatz“ nicht mehr im Kopf ist, sondern bei Bedarf in Daten-Clouds abgerufen wird.

Themen und Wörter können nur aus dem Alltag kommen

Nimmt man die Zielgruppe „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ ernst, können die zulässigen Themen und Wörter für Leichte Sprache nur aus ihrem Alltag stammen. Abstrakte Themen schließt das aus. Die Weltlage lässt sich mit Leichter Sprache nicht verständlich machen. Leider sind viele immer noch überzeugt, dass sich mit Leichter Sprache alles erklären lässt (siehe „Landesverfassung in Leichter Sprache“). Das wird sich mit der DIN SPEC Leichte Sprache nicht ändern. Wer einen Auftrag für einen Text in Leichter Sprache vergibt, sollte zwingend die Lese-Kompetenz und Lese-Erwartung der Zielgruppe kennen. Das verlangt die DIN SPEC aber nicht.

Warum braucht es Prüfgruppen?: Prüfgruppen nehmen in der DIN SPEC einen viel zu breiten Raum ein. Die Regel empfiehlt zwar nur, Prüfgruppen in den redaktionellen Ablauf einzubinden. Trotzdem entsteht beim Lesen der DIN SPEC der Eindruck, ohne Prüfgruppen kann es keinen Text in Leichter Sprache geben. Tatsächlich ist dem nicht so. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass viele Prüfer und Prüferinnen wegen der Lese-Routine ihrer Zielgruppe schnell entwachsen sind. Sie haben einen sehr viel größeren Wortschatz und sollen dann bestimmen, welche Wörter ihre Zielgruppe nicht kennt. Das ist ein abstrakter Vorgang, den Menschen mit einer kognitiven Behinderung selten beherrschen.

Prüfgruppen arbeiten nicht unter realen Bedingungen

Eine Prüfgruppe hat sehr viel Zeit zum Gegenlesen eines Texts. Das kann sich über Wochen hinziehen. Außerdem hat sie eine Assistenz. Das alles haben die Endnutzer nicht. Sie müssen sich allein in einem Text zurechtfinden, und das mit den Möglichkeiten einer kognitiven Behinderung.

Im Internet finden sich eine Menge Texte, die das Label Leichte Sprache haben. Im Impressum findet sich der Hinweis auf eine Prüfgruppe. Tatsächlich gehen die Texte wegen Länge und Wahl des Themas an der Zielgruppe komplett vorbei. Prüfgruppen sind keine Garanten für Verständlichkeit. Das wird sich mit der DIN SPEC Leichte Sprache nicht ändern, weil dazu die entsprechenden Regeln fehlen. Ich habe mich vehement – aber vergeblich – dagegen gewehrt, Ausbildungsziele für Prüfer*innen in die DIN SPEC aufzunehmen. Das suggeriert, jeder Mensch mit Lernschwierigkeiten könne die Tätigkeit ausüben.

Nach meiner Beobachtung schicken Werkstätten ausschließlich solche Klienten zu einer Prüfer-Fortbildung, die von vornherein über der eigentlichen Zielgruppe stehen.

Siehe auch Mythen und Fakten Leichte + Einfache Sprache (III)

DIN SPEC Leichte Sprache ignoriert moderne Entwicklungen

Leichte Sprache und KI?: Das wird in der DIN SPEC Leichte Sprache nicht behandelt. Inzwischen gibt es einige Sprachmodelle, die bestehende Texte in die Leichte Sprache übersetzen sollen. Selten mit einem zufriedenstellenden Erfolg. Statt aktuelle Entwicklungen aufzugreifen, behandelt die DIN SPEC ausführlich die Verwendung des angestaubten Medio-Punkts.

In der DIN SPEC 33429 Leichte Sprache steckt ohne Frage sehr viel Arbeit. Aber sie erfasst nur einen Teil der Barrierefreiheit: Wie für eine Webseite vorgeschrieben, ploppt als Erstes ein Fenster mit den Bedingungen zum Datenschutz auf. Meistens in sehr schwerer Sprache. Für Menschen mit einer kognitiven Behinderung ist das eine sprachliche Barriere, die sie nicht überwinden können. Sie sind raus, bevor sie den Text in Leichter Sprache gefunden haben.

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Wer mich hören möchte, kann dies im Podcast hier tun.


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Kommentare

3 Antworten zu „Warum DIN SPEC Leichte Sprache gescheitert ist“

  1. Avatar von Gunda Reichenbach
    Gunda Reichenbach

    Es ist in keiner Weise nachvollziehbar, dass Behörden und andere Organisationen so wenig fundiertes Interesse an einfacher Sprache haben. Es ist doch vergeudete Arbeitszeit, wenn notwendige Informationen aufgrund von komplizierter Sprache bei vielen Menschen nicht ankommen. Ich sehe das als Teilbereich von Bürokratieabbau.

    Dass ausgerechnet mit einfacher Sprache derartig unprofessionell umgegangen wird, ist geradezu skandalös! Was sagen eigentlich die Sprecher für Menschen mit Behinderungen der verschiedenen Parteien zu diesem Problem?

    Wenn Sie eine entsprechende Petition entwerfen würden, würde ich sofort unterschreiben.

  2. Avatar von Guildo Schmidt
    Guildo Schmidt

    In Zukunft wird das doch eh automatisiert über KI passieren. Da wird Leichte, einfache und vereinfache Sprache auf Konpfdruck erzeugt oder was meinen Sie?

    1. Avatar von Uwe Roth, Journalist

      Sehr geehrter Herr Schmidt,
      danke für Ihren Kommentar. Es gibt schon einige Versuche, Leichte und Einfache Sprache mit Hilfe von Sprachmodellen (KI) zu erstellen. Das klappt in Ansätzen. Man muss die Regeln der Leichten und Einfachen Sprachen kennen (DIN), um kontrollieren zu können, ob die KI regelkonform gearbeitet hat. Das können die wenigsten.
      Einen Überblick dazu finden Sie auf multisprech.org.
      Ein wichtiger Aspekt der Einfachen Sprache ist, die Lese-Erwartung der Zielgruppe zu erfüllen und den Wortschatz zu berücksichtigen. Die KI ignoriert diesen zentralen Aspekt in den Regeln. Das ist menschliche Arbeit. Noch.

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