Landesverfassung auf 55 Seiten in Leichter Sprache erschienen

Lesedauer 3 Minuten

Die Landesverfassung von Baden Württemberg ist 70 Jahre alt geworden. Aus diesem Grund ließ die Landeszentrale für politische Bildung (LpB) eine Fassung in Leichter Sprache erarbeiten und ins Netz stellen. Die Landesverfassung in Leichter Sprache wurde 55 Seiten lang. Die Autor*innen haben nicht bedacht, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten, für die die Leichte Sprache gedacht ist, keine langen Texte lesen können.

Grundsätzlich halte ich die Landesverfassung nicht geeignet, diese in Leichte Sprache zu bringen. Meine erste Überlegung war: Warum braucht es eine solche Fassung? Ich bin als Journalist und politisch interessierter Normal-Leser noch nie auf die Idee gekommen, die Originalfassung zu lesen. Warum auch? Das wäre sehr, sehr mühselig.

Original: „Erfüllung des christlichen Sittengesetzes“

Der erste Absatz im Original lautet:

„(1) Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.

(2) Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei zu dienen. Er fasst die in seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen, gewährt ihnen Schutz und Förderung und bewirkt durch Gesetz und Gebot einen Ausgleich der wechselseitigen Rechte und Pflichten.“

Verfassung von Baden-Württemberg

Die Landesverfassung ist kein Nachschlagewerk. Für Normal-Lesende gibt es in der Regeln keinen Grund, einen längeren Blick in die Landesverfassung zu werfen. Warum sollte dies ein Menschen mit Lernschwierigkeiten tun?

Leichte Sprache: „Der Staat passt auf: Alle Menschen halten sich an die Gesetze“

In Leichter Sprache beginnt die Landesverfassung so:

„Das sind die Aufgaben vom Staat:

Der Staat beschützt die Menschen.

Der Staat macht dafür Gesetze.

Der Staat passt auf: Alle Menschen halten sich an die Gesetze.

Der Staat ist für alle Menschen da. Dann sind alle Menschen frei. Die wichtigsten Rechte von den Menschen nennt man: Grundrechte. Zum Beispiel:

Jeder darf seine Meinung sagen.

Jeder darf so leben, wie er möchte.

Dabei darf man aber andere Menschen nicht stören. Diese Rechte stehen im Grundgesetz von Deutschland. Das Grundgesetz ist die Verfassung von ganz Deutschland. Baden-Württemberg gehört zu Deutschland. Deshalb gilt das Grundgesetz auch in Baden-Württemberg.“

Auszug der Landesverfassung in Leichter Sprache

Ein typischer Leichte-Sprache-Satz: „Dabei darf man aber andere Menschen nicht stören.“

Stören? Etwa beim Lesen der 55 Seiten? Der Text könnte von irgendwo abgeschrieben worden sein. Es sind Standardsätze, die man aus Leichte-Sprache-Texten zu Genüge kennt. Sätze aus der Phrasen-Datenbank „Leichte Sprache“.

Na ja, dass der Staat aufpasst und sich deswegen alle Menschen an die Gesetze halten, ist offensichtlich nicht korrekt. Schön wäre es. Die Übersetzer*innen haben offensichtlich die Regel beherzigt, dass Modalverben wie „sollen“ in Leichte Sprache-Texten nicht gerne gelesen werden.

So lange die DIN SPEC 33429 Leichte Sprache nicht in Kraft ist, gibt es kein offizielles Regelwerk. So jedenfalls ist die Aussage sprachlich falsch, alle halten sich an die Gesetze.

Überschrift mit schweren Begriffen

Die Überschrift zum 1. Abschnitt lautet:

Teil 1 von der Verfassung:
Vom Menschen und seinen Ordnungen
Abschnitt 1
Mensch und Staat

Nach dem Lesen dieser Überschrift weiß ein Mensch mit Lernschwierigkeiten Bescheid, warum er weiterlesen soll. Vier Wörter in der Überschrift gehören nicht zum Wortschatz der Leichten Sprache. Bei diesem Menschenkreis darf nicht angenommen werden, dass er trotz der unverständlichen Überschrift weiterliest, um im folgenden Text Erklärungen zu finden.

Ich habe die Landesverfassung in Leichter Sprache auf 55 Seiten nicht durchgehalten. Es ist alles sehr verwirrend.

Aus meiner Sicht wäre es ein Held*innen-Stück gewesen, das Original in die Einfache Sprache zu bringen. Dann wäre die Landesverfassung endlich für alle Bürger*innen verständlich. 70 Jahre nach der Erstfassung wäre das ein fälliger Schritt gewesen.

An dem Satz hätte ich als Experte für die Einfache Sprache gerne gearbeitet:

„(1) Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.“

Ich habe Kontakt zur Landeszentrale für politische Bildung aufgenommen. Der Verantwortliche hat es abgelehnt, mit mir darüber zu sprechen. Auch von der Einfachen Sprache wollte er nichts wissen. Seine Absage per Mail war kurz: „Der Text ist von einer Prüfgruppe gegengelesen worden.“

Diskussion beendet.

Das Totschlag-Argument – wie oft habe ich das schon gehört. Meistens von Menschen, die weder von der Leichten noch von der Einfachen Sprache bzw. von dem Menschenkreis Lernschwierigkeiten/kognitive Einschränkung eine Ahnung haben.

Landesverfassung in Leichter Sprache – immer eine Nachricht wert

Eine Nachrichtenagentur hat die Pressemitteilung zur Veröffentlichung aufgegriffen. Darin wird die Landtagspräsidentin mit den Worten zitiert:

„Alle Menschen haben ein Recht auf umfassende Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben. Anlässlich des 70. Jahrestags der Landesverfassung wollen wir mit unserem Angebot in Leichter Sprache diese Teilhabe weiter fördern.“

Pressemitteilung LpB

„Ein Recht auf umfassende Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben.“ – auch den Satz habe ich oft gelesen. Ein Text in Leichter Sprache ist per se Inklusion. Viele Zeitungen in Baden-Württemberg haben die Pressemitteilung übernommen.

Der Text verstößt gegen eine zentrale Norm der geplanten DIN SPEC 33429 Leichte Sprache: Auffindbarkeit. Menschen mit Lernschwierigkeiten werden den Text im Internet nie finden. Er ist abgeschottet von vielen Klicks und Scroll-Bewegungen mit der Maus.

Das ist die vollständige Fassung der Landesfassung von Baden-Württemberg in Leichter Sprache:

https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/fremdsprachen/Landesverfassung%20Baden-W%c3%bcrttemberg%20in%20Leichter%20Sprache.pdf


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